Nachwort von Prof. Ziesemer

Direktor des Instituts für Heimatforschung an der Universität Königsberg i. Pr.

 

Frau Hertha Grudde hat die auf den vorstehenden Blättern abgedruckten Volksmärchen in den Jahren 1926 und 1927 in Beis­leiden, Kreis Pr.-Eylau, gesammelt und ausgezeichnet. Sie hat bereits einmal der volkskundlichen Erforschung Ostpreußens einen Dienst er­wiesen, indem sie Eduard Roese das wichtigste Material zu seinen „Lebenden Spinnstubenliedern" (Berlin 1911) zur Verfügung gestellt hat. Seit der Begründung des Instituts für Heimatforschung (1925) ist sie dessen eifrige Förderin, seit vielen Jahren eine kenntnisreiche Helferin am preußischen Wörterbuch. Von leidenschaftlicher Liebe zn ihrer natangischen Heimat erfüllt, tief verwurzelt in Landschaft, Ge­schichte und Bevölkerung Ostpreußens, richtet sie ihr Denken und Arbeiten auf die volkskundliche Erforschung ihrer Heimat. Seit mehr als zwanzig Jahren an dem gleichen Orte wohnend, kennt sie mit tiefen psychologischen Verständnis die Bewohner in all ihren Schick­salen und Lebensgewohnheiten, ihren Sorgen und Nöten und besitzt deren volles Vertrauen: die grundlegende Voraussetzung für die Auf­zeichnung dieser Volksmärchen.

Die Träger dieser Märchen sind arme Instfrauen und Land­arbeiter, unbeschwert von literarischer Last, Man versündigt sich an seinen Volksgenossen, wenn nran über sie, über ihre Sprache, ihre Anschauungen lächelt. Man darf auch nicht kommen, um in wenigen Stunden möglichst viel für sich zu erraffen, ohne mit dem Volke zu leben und die Sorgen der einzelnen wie der Masse zu kennen. Ohne Liebe zum Volke ist keine Runde des Volkes möglich.

Die eigentliche Pflegestätte des Volksmärchens war die Spinn­stube. Mit den: Verschwinden der Spinnstuben ist ein unendlicher Schatz von Märchen, Schwänken und Liedern versunken. In ihnen erzählten sich die Frauen ihre Märchen, die sie von den „Schul­märchen" streng unterschieden. Sie erzählten die Märchen unter sich, d. h. für Erwachsene, nicht für Kinder. Hier in Natangen sind es vor allem die Frauen, die die Bewahrer und Erzähler der Märchen sind, anders als es Wisser in seinen plattdeutschen Volksmärchen (Band I, Seite XIV) für Ostholstein beobachtet hat.

Wie und wo wurden nun die Märchen ausgeschrieben? Gelegentlich geschah es gleich nach Diktat oder aber erst in eine Kladde, denn die Erzähler sprechen langsamer oder schneller, je nachdem sie Zeit haben oder eine leichtere oder schwerere Arbeit verrichten, wenn sie zur Vesper kommen, langsam und bedächtig effen und trinken, dann geht das Erzählen auch ungezwungen langsam vor sich. Dann konnten die Märchen gleich wie nach Diktat getreu nachgeschrieben werden. Bei schnellem Erzählen wurden die Stichworte in die Kladde notiert, die Kladden aber stets am gleichen Tage abgeschrieben, so daß eine völlig getreue Wiedergabe gesichert ist. Geschrieben wurde int Eßzimmer, in der Küche und im Keller, während die Frauen arbeiteten, im Garten beim Obstpflücken, auf dem Holzhaufen vor dem Haus, auf den Futter­kästen im Stall, auf Wagendeichseln zwischen Brettern und Baum­stämmen auf dem Hof, int Straßengraben der Landstraße, int Arbeiter­stübchen und Gärtchen, wenn gesponnen, gestrickt und geflickt wurde.

Auf die angegebene Art sind in dem kleinen Beisleiden allein über 300 Volksmärchen gesammelt und ausgezeichnet worden. Aus dieser Zahl bringt der vorliegende Band eine Auswahl von 112. Die Er­zähler stammen fast durchweg aus dem Kreise Pr.-Eylau in der alt­preußischen Landschaft Natangen. Die meisten Märchen sind aus dem Munde von Frau w. (* 1876) aufgezeichnet worden, in der vor­liegenden Auswahl 81, und zwar folgende Nummern: 1, 3, 5, 6, 9—12, 14—16, 1922, 24, 25, 2738, 4146, 48—51, 54—58, 6171, 7375, 77—82, 84, 85, 87—93, 9597, 100, 103, 108, 110, 111. Von Frau L. (* 1873) stammen die Nummern 2 und 107, von Frau Th. (* 1879): 4, 7, 72, 98, 102, vou Frau B. (* 1859): 13, 23, 26, 39, 60, 76, 86, 106, 112, von Frau Sch. (* 1882): 104, von Frau R. (* 1851, + 1927): 99 und 101, von Frau MT. (* 1879): 105a, von Ferd. L. (* 1869): 8, 47, 105b, von Friedr. B. (* 1857): 94. Dazu von Frau W. und Frau B.: 17, 18, 109, von Frau W. und Frau Sch.: 40, 53, von Frau w. und Frau Th.: 52, von Frau W. und Frau R.: 83, von Frau W., Frau Th., Frau L. und Fräulein Kl. (* 1885): 59.

Die Märchen wurden lautgetreu, jedoch unter Anwendung der üblichen Rechtschreibung ausgezeichnet. Der Dialekt ist der nieder­deutsche des südlichen Natangen. Am Satzbau der Erzähler wurde nichts geändert: so ist die Sprache der Bevölkerung. Einen ganz besonderen wert erhalten die Märchen durch die Melodien, die zu den vielen in die Märchen ein gestreuten Versen gesungen werden und auf­genommen werden konnten. Märchenverse gibt es überall (vergl. G. Kahlo, Die Verse in den Sagen und Märchen, Diss. Jena 1919), aber bisher ist es nirgends in Deutschland gelungen, Melodien zu diesen Versen aufzunehmen (abgesehen von dem Hinweis bei Bolte-Polivka, III, 518). Hier finden sie sich in überraschender Fülle. Dadurch ist unsere Sammlung geeignet, der wissenschaftlichen Erforschung der Märchen mancherlei nette Anregung zu geben. Die wissenschaftliche Auswertung z. B. in ihren Beziehungen zu den Grimmschen Märchen, zu den Krohn-Aarneschen Typen u. a. soll später an anderer Stelle gegeben werden.

Im Institut für Heimatforschung wurden die Aufzeichnungen in Schreibmaschinenschrift umgeschrieben, geordnet und der Druck sorg­fältig überwacht. Herrn Prof. Dr. Müller-Blattau danke ich herzlich für seine Mithilfe bei dem Zustandekommen des Buches. Ueber die Aufzeichnung und die Eigenart der Melodien berichtet er selbst.

Der Provinzialverwaltung der Provinz Ostpreußen sowie dem Königsberger Universitätsbund sage ich auch an dieser Stelle für die Gewährung von Druckzuschüssen meinen besten Dank. Es handelt sich in dem vorliegenden Buch nicht nur um die Bereitstellung von Texten und Melodien für die wissenschaftliche Märchenforschung, sondern zu­gleich um ein Heimatbuch in des Wortes bestem Sinne. Es ist aus der lebendigen Wurzel heimatlichen Volksgutes erwachsen und gibt in erfrischender Unmittelbarkeit Denkweise, Gefühlswelt und Ge­staltungsfähigkeit unverbildeter Menschen wieder. So möchte es auch zur Stärkung der Heimatliebe und Heimatpflege wirken.

Prof. Dr. Ziesemer,

Direktor des Instituts für Heimatforschung.

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