Neues aus der Anstalt

Die Rückkehr zum Großvater

Nach fasst drei Jahren nahm ich einen erneuten Anlauf, mich bei Herrn Dr. Beddies über den Fortgang des DFG-Projektes zu den Patienten der Wittenauer Heilstätten zu erkundigen. Leider war der Stand immer noch der alte. Aber er teilte mir mit, dass er beim nächsten Besuch des Archivs einmal nachschauen wird, ob er fündig wird. Wenn er in der ersten Schicht etwas finden würde, wird er mich benachrichtigen. Ansonsten müsste ich mich noch gedulden.

Ich hatte schon gar nicht mehr an dieses Ereignis gedacht, als zwei Monate später am 29.6.2006 eine E-Mail von Herrn Dr. Beddies eintraf. Er teilte mir mit, dass er die Krankenakte von meinem Großvater ganz oben im Stapel gefunden hätte und dass er mir Kopien zusenden werde. Sie können sich vielleicht vorstellen, wie aufgeregt ich war. Es kribbelte regelrecht in mir und ich konnte es nicht erwarten, mehr zu erfahren. Nach ein paar Tagen traf die Post ein. Sofort riss ich den Brief auf und holte die Unterlagen heraus. Es waren 6 Seiten: Deckblatt, Vorgeschichte und Krankenakte.

 

Krankheitsgeschichte des Maurers August Loseries

 

Deckblatt

Wittenauer Heilstätten der Stadt Berlin, Haus Nr. 7
Aktenzeichen: L 708
Aufnahme am 29.6.1932 (man beachte dass Datum. Am 29.6.2006 erhielt ich die Nachricht über den Fund. - Das war mir schon etwas unheimlich)
vorläufige Diagnose: Schizophren
endgültige Diagnose: praesenile Psychose ?, symptom. Psychose

Man war sich in der Heilstätte nicht einig. Anscheinend hatte man solch einen Fall noch nicht gehabt. Oder warum wurde ein Fragezeichen bei der Diagnose gesetzt ?

Religion: diff.
Todesursache: Spaltungsirresein, Herzschwäche aufgrund dauernder Unruhe

Vorgeschichte

Am 29.6.1932 aufgenommen, mitgeteilt von Sohn am 3.7.1932:

Vater hat seit einiger Zeit ein nervöses Herzleiden. War sonst stets unauffällig. Lebte sehr solide, rauchte und trank sehr wenig.
Mutter stets fromm, Vater freidenkend. Er habe doch wohl mit seinen Ideen nicht recht fertig werden können und auch vor Ausbruch der Krankheit - vor 8 Tagen - gelegentlich andere Ansichten als bisher geäußert.
In der gesamten Verwandtschaft des Vaters keinerlei geistige Erkrankungen.

Puh. Dass musste ich erst einmal verdauen. Was war geschehen ? Irgendetwas musste ihn um den Verstand gebracht haben. Nun, den Grund werden wir heute nach so langer Zeit nicht mehr in Erfahrung bringen. Aber heute weiß man, dass solche plötzlichen psychischen Änderungen z.B. durch Tumore ausgelöst werden können. Aber schauen wir weiter, was in der Krankengeschichte geschrieben steht.

Protokolle

13 Uhr mit Auto

Berlin-Rosenthal, den 29.6.1932

Herr Loseries befindet sich in einem Erregungszustand, irrt auf dem Hof und der Straße umher, predigt allen Leuten ihm sei der heilige Geist erschienen, er sei Gott und werde das dritte Reich aufrichten, u.s.w.
Aufnahme in eine geschlossene Anstalt ist dringend notwendig.

Gez. Dr. Jürgens

Aufnahmebefund in Wittenau. 29.6.1932

Liegt verzückt deklamierend im Wagen, nennt den Arzt „Gott“, erklärt, er sei ein ganz kleines Kind u.s.w.
Sachliche Befragung unmöglich

gez. Dr. Blume

30.6.1932
Muß isoliert werden. Lärmt, unruhig.

1.7.1932
Heute im Bett, drängt heraus, kniet und betet laut. Nicht ansprechbar.

1.VII.32
Hochgradig erregt. Pathetisch

„... laßt mich los, euer Israel, die ihr glaubt an seinen Herrn, werdet nicht vernichtet werden (Klatscht dabei rhytmisch auf die Hände) Mein Sohn, gib mir Wasser. Ich verbrenne. Ich tue nichts, ich habe die reine Wahrheit gesagt. Herr, mein Gott hat mich gepflegt, von Montag bis Dienstag, da habe ich gerufen, Herr, hilf ! Sonst verdirbt die ganze Welt. Haltet sie Gott, die wollen mich umbringen. Raus, Teufel, raus aus mir. Du bist mein aufrichtiger Wunsch ...

Incohaerenter Rededrang.
Wechselnde Affekte zwischen z??ütiger Anregung und frommer Rührung
Immer sehr pathetisch
Höre die Stimme Gottes
Sehe Gott und den Teufel
Orientierung nicht sehr herabgesetzt.

Heute sei der 28. Juni. Weiß, wann er hierher gekommen ist.

Gibt seinen Nachnahmen und Geburtsdatum richtig an.

Somatisch: kräftig gebaut.

...

9.7.1932

Wird in moribundem Zustande auf Haus 7 eingeliefert. Stirbt Stunden nach der Einlieferung unter zunehmender Herzschwäche.

 

Hier möchte ich jeden erst einmal bitten, eine Gedenkpause einzulegen, bevor Sie weiterlesen. Für mich deutet vieles darauf hin, dass mein Großvater von einer plötzlich auftretenden, schweren Krankheit heimgesucht wurde, die eine Schädigung in bestimmten Hirnpartien hervorrief, wodurch er möglicherweise die strenggläubigen, andauernden Ratschläge seiner Mitmenschen im übertriebenen Maß äußerte. Anders kann ich mir einen solch plötzlichen Sinneswandel eines Freidenkers in einer ansonsten streng-christlichen Gemeinschaft nicht vorstellen. 

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